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12 - die frau

http://www.kunstradio.at/2005B/13_11_05.html
gesendet am 13.11.2005  23:05 Uhr auf ORF - Ö1 - Kunstradio
Sprecherin: Mirjam Jessa / Tontechnik: Robert Korherr

 

 

Ich sehe das Gesicht im Spiegel. Meines ist es nicht. Ich sitz oft lange da, ich merk es nicht. Der Kleine schläft, sie ist im Kindergarten. Das Fenster ist offen, ich hab es aufgemacht, heute ist es warm. Die Stadt rauscht vor sich hin. Ich hab ein Photo beim Spiegel, da ist mein Gesicht drauf, wie es vorher war. Sie haben es gut hingekriegt. Ich schau mir ähnlich. Narben sind noch. Die Zeit vergeht.

 

Ich leg mich wieder hin. Es ist kein Unterschied, wenn ich nicht auf bin. Es ist heute so ein Tag, da geht es nicht. Wenn ich was angreife, leg ich es wieder hin, ohne was zu tun. Heute kann ich nichts tun. Ich schalte das Radio ein und hör zu. Stimmen und Musik. Keine Aufregung. Es regnet an die Scheiben. Ich schlafe ein. Ich schlafe oft ein.

 

Ich gieß die Pflanzen. Die wachsen einfach so. Der Kleine krabbelt am Boden herum, immer ihr nach. Manchmal lässt sie sich einholen. Dann lachen sie. Ich schaue zu. Manchmal mach ich mit. Dann spielen wir eine Zeit lang. Ich werd schnell müde.

 

Ich will munter sein. Der Tag vergeht einfach, und der nächste auch. Wenn die Kinder nicht da wären, wär überhaupt nichts. Es geht immer so dahin. Sie haben gesagt, es wird besser. Aber es wird nicht besser. Es ist immer so ein Rauschen im Kopf, aber es ist kein Geräusch. Nur so dahin. Watte. Eine Schachtel voller Watte um den Kopf.

 

Vorher waren wir zu dritt. Sind wir jetzt auch, aber er ist nicht mehr da. Es war nass und kalt. Finster. Wenn ich daran denke, an vorher, scheint die Sonne. Wie in dem Prospekt. Die Sonne ist jetzt weg. Ich kann mich genau erinnern. An sein Gesicht. An seine Hände. Wir haben gestritten. Ich war traurig wegen dem Kind. Und zornig. Wir haben oft gestritten. Das bleibt.

 

Das ist nicht zum Lachen. Das sind die Tabletten. Ich will die nicht mehr nehmen. Ich muss sie nehmen. Ohne geht es nicht. Ohne Tabletten stehe ich den Tag nicht durch. Und die Nacht. Mit den Tabletten sind wenigstens keine Träume, das ist schon was. Das war schon anders.

 

Manchmal gehe ich einen Wein trinken und lass mich anschaun. Ob ich es aushalte, wenn die Leute mich anschaun. Wie sie mich anschaun. Angesprochen werd ich nicht. Ich rede auch nicht. Ich stehe nur herum. Oder ich sitz an einem Tisch. Lange bin ich nie weg. Vertragen tu ich nichts, und es ist nur Lärm um mich herum, wie in der Bahnhofshalle. Wenn ich heimkomm, sitzen wir da und schauen in die Kerze. Da ist es still. Die Nachbarin redet nicht viel. In der Nacht nicht. Sie schaut auf die Kinder, wenn ich weg bin. Es muss sich ändern, sie macht zu viel für uns. Für mich.

 

Was man macht an einem Tag ist mir entglitten. Manchmal geht es. Dann ist es fast normal, ich mach die Sachen einfach. In den Kindergarten, ins Geschäft, zur Bank. Und zu Hause. Dann geht es wieder nicht. Ich steh da und hab was in der Hand. Dann muss ich nachdenken, für was das ist. Oder ich stehe vor dem Kühlschrank. Oder vor dem Herd, da kocht ein Wasser. Vor dem Spiegel sitz ich oft und schau mich an. Oft weine ich.

 

Wenn das Wetter wechselt, tut es weh. Oder wenn es nass und kalt ist. Es war alles gebrochen. Die anderen Stellen tun auch weh. Das kann man operieren, sagen sie, nachher spür ich nichts mehr. Sehen tut man dann auch fast nichts. Es sind die Narben, es war kompliziert. Angesteckt hat er mich wenigstens nicht. Und die Psyche, sagen sie. Die Psyche macht am meisten aus. Also Tabletten. Ich will sie nicht nehmen, ich muss. Ist besser so. Allein schon wegen der Kinder. Ohne die Kinder wär jetzt gar nichts mehr.

 

Die Nachbarin hat einen Schlüssel. Wie ich aus dem Krankenhaus gekommen bin, hat sie die Wohnung neben mir gehabt. Sie hat getauscht, damit es nicht so weit ist. Sie war oft im Krankenhaus. Erst zu Besuch. Dann ist die Regel ausgeblieben, und sie haben gesagt, ich bin schwanger. Sie haben gesagt, es ist kein Problem. Ich wollte nicht abtreiben. Ich hab streiten müssen. Die Nachbarin hat mir geholfen. So viel Kraft hab ich alleine nicht gehabt, dass das gegangen wäre. Test hab ich keinen gemacht. Die Tabletten hab ich auch nicht mehr genommen.

 

Ich muss hinausgehen. Das ist gut für mich, sagen sie. Der Therapeut will mich auch öfter draußen haben. Ich muss unter Menschen. Draußen ist es laut. Ich mag das nicht. Und es ist alles schnell. Da werde ich leicht ungeduldig. Mit den Kindern geht es. Wir gehen in den Park. Die Kleine spielt mit den anderen Kindern, er sitzt bei mir auf dem Schoß. Er lacht. Oder einkaufen. Der Kleine sitzt im Wagen und lacht. Er lacht meistens. Ich weiß nicht, warum. Er lacht und schläft. Wenn er weint, sind es die Zähne. Oder Verstopfung. Nichts Kompliziertes, er ist gesund. Da schaut die Nachbarin.

 

Er will alles haben im Geschäft. Die Sachen sind bunt. Und es ist Musik von oben. Den Kindern macht das Spaß. Ich werde nervös. An der Kassa werde ich sowieso nervös. Es muss alles schnell gehen, aber es geht nicht schnell. Ich muss alles einräumen. Dann muss ich zahlen. Alles einpacken. Und die Kinder. Ich muss schnell nach Hause.

 

Die Nachbarin hat einen Schlüssel. Ich seh sie hinter mir im Spiegel. Sie hat den Kleinen am Arm. Er hat geweint. Ich hab es nicht gehört. Sie sagt, die Kleine ist im Park, mit dem Hund und dem Nachbarn. Sie spielt gerne mit dem Hund. Der Nachbar ist nett. Er ist arbeitslos. Es sind alle nett im Haus. Es regnet. Ich soll zur Therapie, sagt sie. Ich darf die nicht so oft versäumen.

 

Ich sitze da mit einem Buch. Oder mit einer Zeitschrift. Ich kann mich nicht erinnern, was da steht. Ich weiß nicht mehr, was ich gelesen habe. Oder der Fernseher ist eingeschalten und Leute lachen. Es geht dumpf so vor sich hin. Manchmal wache ich auf am Tag und werde zornig, weil nichts ist. Weil ich nichts tun kann. Ich sitze da und schau ins Buch und verstehe nichts. Oder Nachrichten im Radio, da weiß ich nichts mehr.

 

Oft komm ich mir blöd vor. Oder dumm. Wenn ich einfache Sachen nicht kann. Nicht so schnell. Ein Formular, oder etwas unterschreiben. Oder eine Frage, die muss ich erst hören. Aber die Leute warten nicht. Sie haben keine Zeit. Und es sind einfache Sachen. Ich muss mich konzentrieren, und es geht langsam. Manchmal lass ich alles liegen und gehe weg. Oder ich sage nichts. Meistens geht jemand mit. Wenn jemand dabei ist, ist es leichter. Aber sie sagen, ich muss es auch alleine können. Ich muss es lernen. Immer sagen sie, was ich muss. Oft hat auch niemand Zeit.

 

Wenn die Sonne scheint, ist es besser. Jetzt scheint nicht oft die Sonne. Ich bin ungeduldig, weil es nicht anders wird. Nervös und aufgeregt. Zornig. Der Therapeut sagt, es ist schon anders. Dass es am Anfang schlimmer war. Dass es jetzt viel besser ist. Er merkt den Fortschritt, sagt er. Ich merk es nicht. Ich muss oft weinen in der Therapie. Ich gehe oft nicht hin. In die Behandlung auch nicht. Manchmal. Die Nachbarin passt auf. Oft nehm ich die Tabletten nicht. Ohne Tabletten sind dann die Träume.

 

Da kommt sein Gesicht. Seine Hände am Lenkrad. Ich kann mich erinnern. Wir streiten leise, hinten schläft die Kleine. Die schläft immer beim Fahren. Der Rastplatz. Ich muss raus, sagt er, ich brauche Luft. Dann liegt er da. Es ist finster. Nass und kalt ist es. Es fahren alle vorbei, die Lichter seh ich. Mich hört niemand hinter dem Klebeband. Das hat nicht gut gehalten, wegen dem Blut. Ich habe nicht geschrieen. Die Kleine. Sie darf nicht aufwachen. Er darf sie nicht finden im Auto. Das hab ich gedacht. Nicht schreien. Nicht aufwachen. Angst. Und das andere Gesicht.

 

Ich kann mich erinnern. Ich spüre es, es ist kalt. Die Kleider sind in Fetzen. Die Wut. Das Messer. Er schlägt und tritt. Es tut weh. Er schneidet an mir herum. Es tut weh. Nicht schreien. Warten, bis er fertig ist. Es wird aufhören. Es zieht sich hin. Dann ist er endlich fertig, und ich denke, es ist vorbei. Es ist nicht vorbei. Die Wut. Er tritt mir ins Gesicht. Er schneidet ihm die Kehle durch. Wir sehen uns an. Wir wissen es. Es ist vorbei. Dann kommt es wieder. Schnell und laut. Immer wieder. Ich kriege keine Luft. Ich stehe auf und trinke Wasser. Ich nehme die Tabletten. Ich habe nicht geschrieen.

 

Die Kinder schlafen. Ich suche die Zigaretten. Ich habe lange nicht geraucht. Ich denke, ich habe lange nicht geraucht. Mit den Tabletten ist es besser. Die Watte kommt zurück. Es ist weiter weg. Ich halte die Zigaretten in der Hand. Draußen wird es hell. Der Balkon. Das Geländer. Ich zünde die Zigarette an. Man hört die Vögel. Hinter mir geht die Sonne auf. Ich halte mich fest. Ich rauche.

 

Ich wache auf. Die Sonne scheint. Ich sehe mein Gesicht im Spiegel. Oben an der Ecke ist ein Photo, da ist auch mein Gesicht. Es sieht mir ähnlich. Die Nachbarin kommt und hilft mir beim Frühstück. Sie hat einen Schlüssel. Sie ist nett. Alle im Haus sind nett. Ich höre die Kinder. Die Sonne scheint.

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